INGE MICZKA


/// Meeresfrüchte
 2020/21 







Liebe und Hass, Werden und Vergehen, Egoismus und Gemeinsinn – das Leben ist geprägt von Gegensätzlichkeiten.Viele davon sind konstitutiv und daher beständig. Andere jedoch bieten Handlungsoptionen für Veränderung. Inge Miczka hat sich solch eines Aspekts angenommen: dem der ‚Begehrlichkeit und Abstoßung‘. In ihrem Fotografie-Projekt ‚Meeresfrüchte‘ setzt sie sich mit den Auswirkungen der modernen Konsumgesellschaft auseinander. Während eines Sardinien-Aufenthalts fiel der Bildenden Künstlerin und Fotografin eines besonders auf: der kleinteilige Müll, der überall vom Meer an den Strand geschwemmt wurde – Faszinosum und Mahnbild zugleich. Zwiespältig beeindruckt, nahm Inge Miczka eine gewisse Menge des Strandmülls mit zurück in die Heimat. Im Atelier fügte sie Elemente dieses klein(st)teiligen Fundus‘ zu verschiedenen Arrangements zusammen, viele davon kaum größer als manche Einzelelemente selbst. Aus immer neuen Kombinationen entstanden präzise komponierte Objekte. Von jedem Objekt fertigte die Künstlerin eine Fotografie an, danach wurde jedes der kaum Hühnerei-kleinen Arrangements wieder auseinandergenommen. Es entstand eine abgeschlossene Serie fotografischer Objektaufnahmen sorgfältig ausgewählter und angeordneter Elemente. Eine künstlerische Umsetzungsform, durch die sich Inge Miczkas Fotografien in den Kontext der Gattung des Stilllebens einordnen lassen können. In zeitgenössischer Art, ähnlich Product Stills bzw. Close-up Shots von Waren, ist jedes Objekt vor weißem Hintergrund in reduziert klarer Bildsprache inszeniert. Was zeigen Inge Miczkas Fotografien? Was stellen die präzise arrangierten Objekte dar? Einen einordnenden Zugang ermöglicht der Blick auf das Genre der klassischen Stilllebenmalerei. Dortige Bildelemente haben vorrangig symbolische Funktion: Eine Zitrone etwa repräsentiert nicht die Frucht als Lebensmittel, eine Tulpe nicht die vordergründige Pracht der Natur. Und: Dargestelltessymbolisiert nicht lediglich etwas anderes, sondern viele der an sich positiven Dinge transportieren zudem sogar eine genau gegenteilige – eine negative – Symbolik. Was für die damalige Gesellschaft lesbar und durchaus schlüssig war, stellt sich insbesondere aus heutiger Wahrnehmungsperspektive eher als ambivalent dar. Dieser Aspekt der Ambivalenz in Motiv und Rezeption spielt in Inge Miczkas Projekt eine zentrale Rolle. Ihre fotografischen Stillleben beinhalten verschiedene Gegensätzlichkeiten und dadurch Symbolik. Am offensichtlichsten: Die fotografierten Objekte wirken sehr farbenfroh und anziehend, wie verführerische Amuse-Gueules (zugleich assoziativer Ursprung des Projekttitels), sie besitzen eine perfekte Optik ähnlich Design-Produkten. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sie sich jedoch als das exakte Gegenteil: als Müll. Was als Erwartung heraufbeschworene wurde, wird nicht erfüllt – Schönes hat auch Schattenseiten. Ein solcher Erkenntnismoment öffnet den Blick für grundsätzlichere Ambivalenzen in Inge Miczkas Fotografien: In jedem Menschen ist ästhetischer und visueller Schönheitssinn angelegt, demgegenüber werden die äußerst unschönen Folgen unreflektierten Konsums jedoch wegschauend in Kauf genommen. Darüber hinaus beschleunigen sich Konsumkreisläufe zunehmend: Immer schnellerwird gekauft und immer schneller verliert Neues seinen Reiz und wird entsorgt. Entsprechende Folgen jedoch vergehen, wenn überhaupt, nur sehr langsam. Eine davon ist die Dynamik, die den Beginn von Inge Miczkas Projekt am Strand von Sardinien markierte: Große Müllmengen werden im Meer entsorgt. Doch dort bleiben sie nicht, sie kommen zurück an Land – und als Mikroplastik in der Nahrung sogar bis in unsere Körper. In dieser Hinsicht lassen sich die aus Müll arrangierten vermeintlichen Leckereien durchaus real deuten. So wird ein Hauptaspekt deutlich, der eine Parallele zwischen den fotografischen Stillleben Inge Miczkas und klassischen Stillleben darstellt: Es geht um grundlegende Themen des Menschseins. Ist dies im kunsthistorischen Sujet beispielsweise Mahnung vor Völlerei und Übermaß, so bringen Miczkas Fotografien menschliches Handeln in heutiger Gesellschaftsrealität auf ähnliche Art zum Ausdruck:

Sie zeigen auf subtile und symbolhafte Weise einen Grenzbereich aktueller Konsumausmaße auf. Grund zur Resignation? Nicht zwingend, wie ein besonderer Aspekt in den Arbeiten der Künstlerin deutlich macht: Müll an sich, und damit auch jedes kleinste Einzelteil der fotografierten Objekte, wird bedauerlicherweise noch viele Jahrzehnte und länger existieren – doch er existiert nicht im besonderen Moment des Fotografierens. In den wenigen Minuten vor der Kamera bekommen die arrangierten Müllteile durch den künstlerischen Prozess einen neuen Stellenwert: Für einen kurzen Augenblick ist Müll nicht mehr Müll, sondern Möglichkeit. Für einen kurzen Augenblick existiert eine lang herbeigesehnte Realität, ein Ausweg, wenn auch vorerst nur auf Mikroebene. Die Fotografie erweitert diesen Gedanke durch ihr medienspezifisches Charakteristikum: Fotografie dokumentiert. Sie hält Momente fest, die nach dem Augenblick des Auslösens nie mehr die selben sind wie zuvor. Verbunden mit dem vorgenannten Aspekt des kurzzeitigen Nicht-Müllseins eine verheißungsvolle Perspektive: Was, wenn auch Inge Miczkas künstlerische Fotografien eines Tages die einzigen abstrakten Dokumente dessen blieben, was einmal dinglichreale Belastung war? Was, wenn Missstände heutigen Ausmaßes künftig nur noch als Dokumente in Archiven existierten? Mit ihren ureigenen Mitteln eröffnet künstlerische Arbeit alternative Perspektiven – Perspektiven scheinbar symbolischer und utopischer Natur, sicherlich Perspektiven hoffnungsvoller Zuversicht. So werden Inge Miczkas Stillleben-Fotografien idealerweise einmal vom Symbol für Umweltbelastung zu einem Symbol für die Vergänglichkeit von Müll. Dazu ist die Künstlerin über die inhaltlichen Ebenen hinaus bereits konkrete Schritte gegangen: Ihre fotografischen Arbeiten sind Prints, gedruckt zum einen mit umweltfreundlicher Farbe auf ungebleichtem umweltfreundlichen Papier, zum anderen auf wetterfesten Fahnen, deren Gewebe aus recyceltem Mittelmeer-Plastikmüll besteht. Abschließend noch einmal die Frage: Was zeigen Inge Miczkas Fotografien? Dass es sich bei den Objekten um appetitliche Häppchen handeln könnte? Dass Altes zur Gestaltung von Neuem dient? Oder darüber hinausweisend: dass hedonistischer Lebensstil nie zeitgemäß war? Dass das Meer nie vergisst? In jedem Fall: dass auch in kritischen Zuständen zukunftsfähige Potenziale liegen. Dafür hält Inge Miczka die Fahne hoch: 1,4m x 0,7m – auf dass die vielfach vergrößert abgebildeten Objekte die große thematische Relevanz gebührend transportieren. 

Text: Daniel Scheffel


Video in der SWR-Landesschau

https://www.ardmediathek.de/video/landesschau-rheinland-pfalz/inge-miczka-kunst-aus-strandgut/swr-rp/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzEzODYyNTQ

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