/// Überfahrt 2024
Meeresstrände sind Sehnsuchtsorte: Der Blick kann schweifen, die Seele malt sich traumhafte Ziele an weit entfernten Gestaden aus. Assoziationen wie diese schwingen beim Betrachten von Inge Miczkas zweiteiliger Wandinstallation 'Überfahrt' mit. Das Video zeigt zu Meeresrauschen und Möwenrufen verschiedene Einstellungen von Strand, Meer und Horizont. Daneben veranschaulicht ein künstlerisches Objekt aus Treibgut, dass Strände immer auch Orte sind, an denen das Meer die unterschiedlichsten Dinge an Land spült. Diese vermeintlich positive, ja romantische Darstellung beinhaltet jedoch Brüche: Beim Betrachten des Videos fällt bald auf, dass etwas nicht stimmt, nicht unseren medialen Sehgewohnheiten entspricht: Der Ton ist in Realgeschwindigkeit zu hören, der Film dagegen läuft in Zeitlupe ab – Bild und Ton sind nicht synchron. Ein weiteres Fragezeichen taucht auf, wenn im Video plötzlich vereinzelt Holzteile im Meer treiben. Woher stammen sie? Wozu gehörten sie? Sie stammen von der Mittelmeerküste Kroatiens. Dort hat sie die Künstlerin gefunden und mit nach Deutschland gebracht. Die Frage, wozu die Holzteile gehörten, wird möglicherweise durch den Fundort Mittelmeer und die anhaltende Flüchtlingsthematik beantwortet. Darauf Bezug nehmend, hat Inge Miczka die gefundenen Treibgutstücke zu einem Objekt zusammengefügt, das die Form eines Quadrates aufgreift. Dieses steht symbolisch für ein Zuhause und für Sicherheit – in frühen Zeiten diente es als Grundriss, der den Lebensraum des Menschen schützt, der sich darin niederlässt (vgl. Riedel, 2006). So verweist das Objekt durch Form und Originalmaterial darauf, dass Geflüchtete ihr altes Zuhause in der Heimat verlassen müssen, um sich in unbekannter Ferne unter langwierigen Entbehrungen hoffentlich eine neues Zuhause aufbauen zu können. Das Video, das unsere gewohnte mediale Wahrnehmung bricht; das Treibgut-Objekt, das ein sehr bruchstückhaftes und zerklüftetes Quadrat darstellt – mit diesen Unregelmäßigkeiten als Stilmittel sensibilisiert Inge Miczka für die dramatische Schieflage: Einerseits bedeutet Flucht einen extremen Einschnitt im Leben der Menschen und oftmals deren Tod, andererseits werden diese Tragödien von Unbeteiligten wie uns höchstens beiläufig wahrgenommen. Ist es da Ironie des Schicksals, dass wir alle trotzdem manchmal den selben Strand ansteuern? Meeresstrände sind Sehnsuchtsorte: Der Blick kann schweifen, die Seele malt sich traumhafte Ziele an weit entfernten Gestaden aus. Gestade, die das schlichte Überleben bedeuten könnten – wenn sie denn erreichbar wären.
Text: Daniel Scheffel Quellenangabe: Riedel, Ingrid (2006): Formen. Tiefenpsychologische Deutung von Kreis, Dreieck, Quadrat, Spirale und Mandala (5. Aufl.), Stuttgart u.a., Kreuz Verlag.